Ich glaube, meine Familie war anders als alle anderen: Wir hatten besondere Privilegien, weil meine Eltern in der damaligen Sowjetunion arbeiteten, als es die DDR noch gab, und mein Vater war Parteimitglied.
Wenn ich mit dem Schiff auf Reisen ging, hatten wir keinen Kontakt zur Außenwelt, wir bekamen keine Nachrichten über das Radio. Wir bekamen Nachrichten über Funk, der so etwas wie Morsezeichen übertrug. Die Verbindung war so schlecht, dass ständig Buchstaben fehlten, und niemand hatte Lust zu versuchen, sie zu entziffern, um herauszufinden, welche Nachrichten wir erhalten hatten.
Und die ersten Gefühle, die ich hatte, als ich von der Wiedervereinigung hörte, waren eher von Angst geprägt, weil man in der DDR immer gehört hat: Im kapitalistischen System gibt es keine Arbeit, alles ist schrecklich, die Menschen kümmern sich nicht um einander. Diese Angst war natürlich nicht so leicht loszuwerden.
Meine Eltern arbeiteten zur Zeit der Grenzöffnung im Ural und dachten, sobald die Grenze geöffnet ist und sich die Möglichkeit bietet, in den westlichen Markt einzutreten, werden mit ihren Qualifikationen, mit all dem Erfolg, den sie in ihrer Karriere erreicht hatten, einen guten Start haben. Aber es stellte sich heraus, dass es nicht so war, denn selbst mit ihren Qualifikationen waren sie nicht mehr im richtigen Alter, um auf dem westlichen Markt ein attraktiver Arbeitnehmer zu sein.
Für mich war es etwas einfacher, denn ich war damals eine junge Frau und hatte die Energie, in diesem neuen Land neu anzufangen. Und da ich keine Seereisen mehr machen konnte - das war für ein Mädchen in der BRD fast unmöglich - beschloss ich, eine Zeit lang als Kellnerin zu arbeiten und dann in Hamburg eine Ausbildung zu machen.
Als die Wiedervereinigung stattfand, hatte ich ein Gefühl der Instabilität, der Unsicherheit über die Zukunft. Und wie viele Menschen hatte ich das Gefühl, dass alles, was ich bis dahin gelernt hatte, keinen Wert mehr hatte. Das ist natürlich ein schreckliches Gefühl. Als ich zum Beispiel in Lübeck als Kellnerin gearbeitet habe, hat man uns gesagt: Vergessen Sie alles, was Sie in der DDR gelernt haben, jetzt lernen Sie alles noch einmal. Für jemanden, der schon eine gute Berufsausbildung hatte, war das Unsinn. Warum eigentlich?
Tatsächlich habe ich gemerkt, dass dort die Tische genauso gedeckt waren wie in der DDR. Was ich nicht verstanden habe, war, warum wir so behandelt wurden.
Vielleicht hat das dazu geführt, dass ich mich für eine Ausbildung im Bürobereich entschieden habe, um einen statusorientierten Beruf zu erlernen. Weil ich älter war, hatte ich schon Erfahrungen im Berufsleben - diese Ausbildung war für mich einfacher.
Ist das Gefühl, dass man aus dem Osten kommt, dass man anders ist, verschwunden?
Jetzt ist dieses Gefühl weg, und eigentlich war es für mich leichter, denn ich war ein junges Mädchen, ich war formbar und konnte mich schnell anpassen. Aber für meine Eltern war es schwieriger, denn das Gefühl der Abwertung dessen, was man vorher getan hatte, hat sie nie verlassen.
Manchmal hatten die Leute eine komische Vorstellung vom Leben in der DDR, sie erzählten Geschichten. Einfach weil sie aus dem Westen kamen, aber Verwandte in der DDR hatten, und durch die Besuche bei ihren Verwandten das Leben in der DDR glaubten, die DDR zu kennen und sich eine Art Bild gemacht haben. Und es war komisch, ihren Geschichten über uns zuzuhören.
Was war die kurioseste Geschichte über die imaginäre DDR?
Als ich in der Nähe von Lübeck als Kellnerin gearbeitet habe, sagte eine Kollegin, dass die Menschen im Osten Hundefutter essen. Aber das Lustige daran ist, dass es das in der DDR einfach nicht gab. Das heißt, es gab keine Konserven, keine Dosen mit Spezialfutter. Die Hunde haben Reste vom Tisch gefressen, oder sie bekamen Fleischnebenprodukte zu fressen. Aber es gab kein spezielles Futter. Aber sie hat mir immer wieder widersprochen, dass das so ist.
Gab es in der DDR etwas Ähnliches wie Pioniere? Irgendeine Arbeit mit Jugendlichen, irgendwelche freiwilligen Zwangsorganisationen?
Man hat als Jungpionier angefangen. Ich weiß nicht mehr, ob es eine blaue oder eine rote Krawatte war. Und so wie es uns in der Schule beigebracht wurde, so wie ich mich erinnere, war der Zweck dieser Bewegung, deutlich zu machen, dass wir gemeinsam stark sind, dass wir gemeinsam etwas schaffen können.
An den Nachmittagen gab es einige freiwillige Versammlungen. Nicht wirklich freiwillig, natürlich. Als Kind habe ich das nicht wirklich verstanden, ich war damit einverstanden. Später, als Jugendliche, habe ich es in Freie Deutsche Jungend deutlicher gespürt.
Als Pioniere haben wir Altpapier und Flaschen gesammelt sowie Subbotniks veranstaltet. Mit Subbotniks meine ich, dass wir in Parks und auf öffentlichen Plätzen aufgeräumt haben. Und all das diente dazu, dieses Gemeinschaftsgefühl zu fördern.
Haben Sie als Jugendliche an die Idee des Sozialismus geglaubt? Und wenn ja, wie war diese heftige Konfrontation mit der Realität später?
Als Kind habe ich natürlich an alles geglaubt, was mir meine Eltern erzählt haben. Alle Dinge, die in deinem Umfeld passieren, nimmst du für bare Münze. Wenn man älter wird, beginnt man Dinge zu bemerken. Man merkt, dass die Eltern versuchen, vor einem selbst nicht über bestimmte Themen zu sprechen. Du fängst an, politische Anekdoten um dich herum zu hören, und davon gab es eine ganze Menge. Und an dieser Stelle beginnt dein Bewusstsein sich zu ändern.
Als Beispiel kann ich eine Anekdote aus meinem Leben erzählen, die diesen Unterschied in der Wahrnehmung der Welt durch West- und Ostdeutsche zeigt. Ein Freund kam mich kurz nach der Grenzöffnung aus Westdeutschland besuchen. Wir gingen ins Kino und neben dem Kino gab es einen Fahrradladen. Es war ein Laden mit einem großen Schild, auf dem „FAHRRÄDER“ stand. Drinnen gab es keine Fahrräder. Und mein Freund fragte mich: „Was ist das, wo stehen da Fahrräder?“ Ich sagte: „Nun, es ist ein Fahrradladen.“ „Aber da sind keine Fahrräder drin“, protestierte er. Und für ihn war es etwas Unvorstellbares, dass auf dem Schild Fahrräderradladen stand, aber es drinnen keine Fahrräder zu kaufen gab. Für mich war es normal, ich habe nicht verstanden, was ihn hier so überrascht hat.
Waren Ihre Großeltern zum Zeitpunkt des Mauerfalls noch am Leben?
Meine Großmutter schon.
Wenn ich das richtig sehe, war sie in der Vorkriegszeit in Deutschland, und sie erinnert sich an die ganze Zeit.
In unserer Familie haben sich die verschiedenen Teile der Familie wegen der Scheidung nicht so gut verstanden. Deshalb erinnerte sich eine meiner Großmütter an dieses Deutschland, aber es war kein Thema, über das allgemein gesprochen wurde, denn es war eine persönliche Tragödie damit verbunden. 1942 starb ihr Mann wegen des Krieges, und sie war gezwungen, zwei Kinder allein zu erziehen, und das war eine sehr schwierige Erinnerung für sie, über die sie nicht viel gesprochen hat.
Hat sie von der Wiedervereinigung Deutschlands geträumt?
Ja, es stellte sich heraus, dass ein Kind in Westdeutschland geblieben ist, das andere war wie sie in Ostdeutschland. Und das Kind, das im Westen geblieben ist, ist leider sehr früh gestorben. Und so kam es, dass sie zunächst durch diese Mauer getrennt waren, und nach der Maueröffnung gab es niemanden, mit dem man kommunizieren konnte.
Heutzutage gibt es viele neue Filme über die DDR und die BRD und diese Zeit. Schauen Sie sich diese an, gefallen sie Ihnen, gibt es gute Filme?
IIm Grunde gibt es nichts, was ich direkt empfehlen kann. Ich schaue Dokumentarfilme, ich schaue praktisch alle. Alles, was populär ist, wovon ich gehört habe, habe ich natürlich auch gesehen. Aber das Gefühl, das man hat, wenn man etwas sieht, das sich mit den eigenen Erfahrungen deckt, wie: „Oh, diese Garnitur, genau wie unsere!“ So etwas kann man nicht vermitteln, ich kann es nicht mit Ihnen teilen. Es gibt allerdings einen Film - „Das Leben der Anderen“. Viele von Ihnen haben schon davon gehört. Glücklicherweise musste ich die Dinge, die in diesem Film beschrieben werden, nicht erleben. Obwohl ich natürlich beobachtet worden bin, weil ich auf einem Schiff unterwegs war. Ich war in den Gewässern in der ganzen Welt unterwegs, also habe ich auch eine Stasi-Akte. Und ich habe einen Teil dieser Akte bei mir.
Auch zu Ihrer Wahrnehmung von Filmen: Im Kino wird nicht alles so gezeigt, wie es im Leben war. Hat man da nicht ein gewisses Gefühl des Verlustes, wenn man sich das ansieht und merkt - so war es aber nicht, oder?
Erinnerungen sind heikel, sie neigen dazu, mit der Zeit verzerrt zu werden. Und wenn man 10 Leute befragt, kann man herausfinden, dass sie sich an dieselben Ereignisse unterschiedlich erinnern. Und ich kann nicht behaupten, dass ich alles in der DDR gesehen habe. Ich konnte nicht im ganzen Land leben, ich konnte nicht das ganze Bild sehen, also hat vielleicht jemand ein solches Gefühl, aber ich verstehe, dass es nicht hundertprozentig objektiv sein kann.
Aber ich halte Kontakt zu Matrosen, mit denen wir in der DDR zusammengearbeitet haben, sie treffen sich, es gibt eine Facebookgruppe. Sie haben z. T. ihre Erfahrungen wie in Memoiren verewigt. Gleichzeitig gibt es Bücherschreiber aus der BRD, die schreiben, wie die Reise der Matrosen aus der DDR verlief und wie die Seefahrt gewesen ist, obwohl sie nie dabei waren. Und so gibt es in dieser Facebookgruppe oftmals Empörung.
Ich möchte ein paar Schritte zurückgehen. Im modernen Russland sind einige der NKWD- und KGB-Archive immer noch geschlossen, und einer der Wunschträume der russischen Aktivisten ist, dass diese Archive irgendwann geöffnet werden. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie die Stasi-Akten über sich selbst eingesehen haben?
Es ist wichtig zu sagen, dass meine Akte auf gar keinen Fall vollständig ist. Aber es ist klar, dass viele Dokumente während der friedlichen Revolution vernichtet wurden. Weil ich Zugang ins nichtsozialistische Ausland hatte, weil ich mit einem Schiff zur See gefahren bin, wurde ich sicherlich doppelt überprüft um für unsere Sicherheitsdienste 100 Prozent als zuverlässig zu gelten.
Wussten Sie etwas über die Stasi, und wenn ja, was war es, wie haben Sie sich dabei gefühlt? Haben Freunde oder Bekannte mit Stasi zusammengearbeitet?
Eindeutig ja.
Sie sagten etwas von Defizit, und das nächste Wort, das mir einfiel, war Schmuggel. Können Sie mir dazu etwas sagen, wenn es sicher ist?
Natürlich, seit ich zur See gefahren bin, hab ich geschmuggelt!
*Lachen und Applaus in der Gruppe*
Aus dem Publikum: Wir nennen das in Russland Parallelimport.
Und was genau haben Sie geschmuggelt?
Ich habe alles geschmuggelt, was verboten war. Ich habe Zeitungen geschmuggelt, die natürlich verboten waren, ich habe präparierte exotische Tiere und Pflanzen geschmuggelt - Entschuldigung, ich war jung und brauchte das Geld!
*Applaus*
Und was geschah mit dem, was gefunden wurde?
Wenn etwas vom Zoll gefunden wurde, war es das Glück derjenigen, die es gefunden haben - sie haben es sicherlich unter sich aufgeteilt. Ich hatte Glück, außer dieser Angst ist mir nichts passiert, und im Großen und Ganzen war es wohl einfacher als bei den Männern, allein durch das Kriterium des Geschlechts.
Auf unseren Campingplätzen am Feuer hatten wir oft diese Gespräche und wir kamen zu dem Schluss, dass wir aus unserer Sicht im Osten oft so russophile Ansichten haben, dass ich als Ostdeutscher viel mehr an einem guten Verhältnis zu Russland interessiert bin als diese ständigen Amerikaner, die uns von oben herab sagen, wie wir zu leben haben.
Ja, das kann ich bestätigen, im Osten gibt es bei vielen so ein Gefühl, das gilt auch für mich.
Und auf den ersten Blick mag diese Situation heute seltsam, unerwartet erscheinen?
Ja, was soll ich sagen, Politik ist eine komplizierte Sache, und mein Sohn ist mein ständiger Partner in politischen Debatten. Und in der Tat, wenn man in einer bestimmten Weltansicht aufwächst, ist man eher geneigt, die andere Weltansicht, die jetzt allgemein als die richtige anerkannt wird, in Frage zu stellen als die Weltansicht der Menschen, die ursprünglich in dieser „richtigen Weltansicht“ aufgewachsen sind.
Eine weniger ernste Frage, aber ich frage immer wieder, wie sich die Geschlechterrollen in Ost- und Westdeutschland unterschieden haben, und ich möchte eine Frage zu romantischen Beziehungen stellen: Als junges Mädchen aus Osteuropa könnten Sie die Initiative ergreifen und jemanden, der Ihnen gefällt, zu einem Date einladen und generell einen Antrag machen, um sich zu beweisen? Oder müssen Sie immer noch so tun, als ob „ich ein anständiges Mädchen bin und auf eine Einladung warte“?
Ich war aktiver - ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich in Ostdeutschland aufgewachsen bin oder nicht - ich habe immer gerne eine aktive Rolle übernommen und zum Beispiel meine Getränke selbst bezahlt, weil ich gemerkt habe, dass ich in dieser Situation zum Beispiel völlig unabhängig gehen kann, wann ich will. Und ich glaube, so lebe ich mein Leben.
Um auf Ihren Akten zurückzukommen - Sie erwähnten, dass Sie merkten, dass Sie beobachtet wurden - wie aktiv war die Überwachung, wie sehr hat sie sich angefühlt?
Sobald ich mich in der 8. Klasse für den Beruf als Stewardess der DSR beworben hatte, wurde der Überprüfungs- und Überwachungsmechanismus ausgelöst, und wir galten als Familie mit Verwandten in Westdeutschland, obwohl es keinen Kontakt gab.
Ein paar Mal habe ich bemerkt, dass ich auf der Straße ohne Grund fotografiert wurde. Ich wohnte in einem Wohnblock, und es gab nur eine Person in dem Block, die ein Telefon hatte - der Hausmeister, und natürlich war es klar, dass diese Person befragt worden war. Er hat meinen Eltern damals auch erzählt, dass diese Gespräche stattgefunden haben.
Und wenn ich auf Reisen ging, hatten wir manchmal einen Politoffizier mit an Bord - eine Person, die nur für die politische Tätigkeit auf dem Schiff zuständig war, diese Person führte auch Gespräche und Veranstaltungen durch. Aber auch andere Leute, die bei der Stasi waren, dachten in der Regel, sie würden es auf subtile Weise tun, und niemand hat etwas verstanden, aber aus den Fragen ging in der Regel hervor, woher sie kamen.
Und wenn man diese Informationen aus dem Archiv anfordert - man weiß nicht, was man bekommt. Es war ein sehr unangenehmes Gefühl, darauf zu warten, was in der Stasi-Akte steht. In meinem Fall war es nichts, aber das konnte ich im Voraus nicht wissen. Es hätte auch mein bester Freund sein können, der mir nachspioniert hat. Und man weiß nicht, wie man mit dieser Information umgehen soll.
Hatten Sie das Gefühl, dass Sie vorsichtig sein mussten, was Sie sagten und zu wem Sie es sagten? Denn ich glaube, Sie haben vorhin erwähnt, dass es auf der östlichen Seite mehr Solidarität gab, dass die Gesellschaft dort mehr zusammenhielt. Und ich verstehe nicht, wie man diese beiden Seiten miteinander verbinden kann. Auf der einen Seite traut man den Leuten nicht, man könnte die ganze Zeit abgehört werden, auf der anderen Seite hat man ein größeres Gemeinschaftsgefühl.
Dieses Gefühl der Verbundenheit kam nur bei Leuten auf, die man schon lange kannte, es waren Leute, mit denen ich vielleicht schon ein paar Mal über politische Witze gescherzt habe, und wir hatten Sympathie füreinander, und ich so konnte dieser Person z.B. erzählen, dass ich eine Jugend-Westezeitschrift „Bravo“ bekommen hatte. Ich hatte also große Angst, als ich um die Dokumente bat - Angst, von diesen Menschen, denen ich die ganze Zeit vertraut hatte, enttäuscht zu werden.
Vielen Dank für Ihre Geschichte, Ihre Antworten, für dieses wunderbare Gespräch.
Aus dem Publikum: Danke schön!